Reiterpraxis.


Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

Ohne Sattel und Trense zum Gänsehautgefühl

Allzu oft geht es uns verloren, das Gänsehautgefühl vor Glück auf dem Pferderücken. Aber wir können ihm wieder auf die Spur kommen – wenn wir uns trauen, gewohnte Pfade zu verlassen und zu einer natürlichen Reitweise zurückfinden, bei der Pferd und Mensch wirklich eine Einheit bilden.

  "Willst Du fliegen ohne Flügel,
    musst Du siegen ohne Schwert!"

Ein Blick in die Kataloge einschlägiger Zubehörversandhäuser oder ein Gang über eine der zahllosen Pferdemessen suggeriert: Für eigentlich jedes Problem zwischen Pferd und Reiter gibt es ein Hilfsmittel als Lösung. Ob zu faul oder zu hektisch, zu steif, zu bockig oder zu guckig – kaufen Sie einfach Hilfszügel X oder Gebiss Y, und schon läuft das Tier wieder wie geschmiert. Oder vielleicht doch nicht? Allzu oft sind Ernüchterung und Frust groß, und die Probleme werden in den seltensten Fällen kleiner, sondern eher noch größer.
Und plötzlich sollen wir Sattel und Zaumzeug ganz weglassen können, in Harmonie mit dem Pferd über Felder und Wiesen galoppieren und dieses Gefühl von Freiheit und Verbundenheit spüren, das uns einst dazu gebracht hat, Reiten als Hobby zu wählen? Nein! Von "plötzlich" kann keine Rede sein. Das "Reiten ohne alles" muss gelernt werden wie jede andere Reitweise auch.

Aber sie kann gelernt werden – davon ist Showreiterin Karin Tillisch überzeugt.
Als ihr Pferd "Shadow" vor vielen Jahren eines Sommers von einer Biene in den Bauch gestochen wurde und eine melonengroße Geschwulst davontrug, war das Reiten mit Sattel für mehrere Monate unmöglich. Was also tun mit einem ohnehin als gefährlich und nahezu unreitbar abgeurteilten Pferd? Karin Tillisch wagte es – und schwang sich "einfach so" auf den Rücken. Shadow war offensichtlich begeistert, lief viel entspannter und williger als jemals bei der Arbeit unter dem Sattel. "Wer Kraft braucht, macht etwas falsch" – diese Worte ihres Großvaters klangen Karin Tillisch nun wieder in den Ohren und legten den Grundstein für die systematische Ausbildung ihres Pferdes, um es schließlich ohne jegliches Hilfsmittel reiten zu können. Einer einzigen "Schlüsselqualifikation" bedarf es ihrer Meinung dabei: Vertrauen. Wenn das Pferd gelernt hat, dass ihm in der Nähe seines Menschen nichts Schlimmes widerfährt, ist die beste Basis geschaffen für eine Reitweise, die ohne Zwangsmittel auskommt. Auf der anderen Seite muss auch der Mensch Vertrauen in sein Pferd setzen: Angst ist ein schlechter Begleiter auf einem nackten Pferderücken ohne Zügel in den Händen. Deshalb kommt es für Karin Tillisch vor allem darauf an, dass Pferd und Mensch gemeinsam und Schritt für Schritt gewohnte Pfade verlassen, Neues ausprobieren und positive Erfahrungen machen. Und das beginnt schon mit der Bodenarbeit – hier zeigt sich, ob die beiden Partner einander verstehen oder ob die Kommunikation bisher eher von Missverständnissen geprägt war. Vieles, was bei der Bodenarbeit in Ruhe erlernt wird, fällt vom Sattel aus und später auch bei direktem Kontakt mit dem nackten Pferderücken deutlich leichter. Auch beim Reiten selbst entwickeln sich nach und nach Leichtigkeit und Harmonie mit immer weniger Ausrüstung.
Viele Reiter finden es zunächst schwer, den ständigen Kontakt zum Pferdemaul aufzugeben und trotzdem nicht das Gefühl des "Kontrollverlusts" zu haben. Doch ist es eine befreiende und erhebende Erfahrung, dass es dieser Kontrolle irgendwann gar nicht mehr bedarf, da Mensch und Pferd ohnehin an einer Sache interessiert sind. Außerdem: Jeder, der schon einmal ein durchgehendes Pferd beobachtet oder selbst auf einem solchen gesessen hat, wird schnell den Irrglauben erkennen, der hinter der Idee steht, ein Pferd mittels eines Stückes Metall im Maul kontrollieren zu können. Von der Trense zur gebisslosen Zäumung, von dieser zum Halsriemen, zum alleinigen Dirigieren mit einem Stöckchen und schließlich zum Verzicht auf jegliches "Handwerkszeug" sind es nun eigentlich nur noch logische Entwicklungsstufen auf einem klaren Weg.

Um auch den Sattel in der Kammer hängen lassen zu können, kommt es vor allem auf die Schulung von Balance und Gleichgewicht an. Wer hier mit Sitzübungen an der Longe – am besten mit Voltigiergurt und dickem Westernpad – beginnt, wird irgendwann den nackten Pferderücken nicht mehr als rutschig und unbequem empfinden und auch bei Trailübungen oder Seitengängen keine Schwierigkeiten mehr haben. Vor allem aber können wir genießen, dem Pferd in viel feinerer Dosierung viel präzisere Signale geben zu können – und erhalten Rückmeldungen, die das Gänsehautgefühl auslösen, das uns einst

Die Vorsicht reitet mit!
Als Showreiterin hält Karin Tillisch sich nicht immer an die Sicherheitsempfehlungen, die sie selbst gibt. Wer nicht auf Shows auftreten möchte, sollte dagegen zwingend auch beim Reiten ohne Sattel und Zaumzeug auf seine eigene Sicherheit achten. Dazu gehört das Tragen eines Helms und fester Schuhe, und auch eine Sicherheitsweste ist zu empfehlen. Außerdem sollten Sie niemals "ohne alles" ins Gelände reiten! Auch ein noch so verlässliches Pferd kann sich erschrecken, in Panik geraten und ist in diesem Notfall dann nicht bremsen. Davon abgesehen wird kaum eine Versicherung im Schadensfall zahlen, wenn Sie ohne Zügel und Steigbügel unterwegs waren!