Philippe Karl ist einer der mutigsten Kritiker einer Dressurwelt, deren Ausbildungsmethoden einzig darauf abzielen, ein Pferd möglichst schnell in mit hohen Preisgeldern dotierten Prüfungen an den Start zu bringen. Im ReiterPraxis-Interview erläutert der langjährige Cadre Noir-Bereiter, der sich heute der Ausbildung von Reitlehrern widmet, sein Konzept der Légèreté.
Herr Karl, wie können Sie die
Grundprinzipien Ihrer Arbeit beschreiben?
Mein Unterricht basiert auf dem Wissen über Pferde.
Das klingt erst mal offensichtlich, aber wenn
man sich mal intensiv mit den Bereichen Anatomie,
Physiologie, Gleichgewicht, Bewegungslehre
und Verhaltensforschung beschäftigt, wird
schnell klar, dass viele Auffassungen der modernen,
konventionellen Dressurausbildung zumindest
fragwürdig, wenn nicht sogar völlig falsch
sind.
Wer die besten Reitmeister mit wirklich fundiertem Wissen studiert, wird herausfinden, dass die natürlichsten und intelligentesten Methoden gleichzeitig die sanftesten und wirkungsvollsten sind. Und das heißt: keine festgezurrten Nasenriemen, keine Ausbinder oder Schlaufzügel – weder beim Reiten noch beim Longieren. Weniger Hilfsmittel bedeuten eine höhere Kompetenz.
Außerdem wird meiner Ansicht nach zu oft gesagt: „Um Dressur zu reiten, ist ein Dressurpferd nötig.“ Für mich ist Dressur nur dann als „klassisch“ zu bezeichnen, wenn sie für jedes Pferd da ist, keine Hilfsmittel braucht und für jede reiterliche Disziplin, also auch Springen und Geländereiten, anwendbar ist.
Erklären Sie uns, was hinter Ihrem
Konzept der „Légèreté“ steckt?
Légèreté ist ein Begriff, der in der französischen
Reitkultur wurzelt und schwer zu übersetzen ist.
Und wie gehen Sie konkret vor?
Das Konzept der Légèreté beruht auf einer präzisen
zeitlichen Abfolge: Als Erstes kommt die Entspannung.
Der Reiter bringt das Pferd dazu, das
Gebiss zu akzeptieren, indem es damit spielt. Ein
Pferd, das seine Zunge und den Unterkiefer
bewegt und Schluckbewegungen ausführt, entspannt
sich. Das hat ganz einfach anatomische
Gründe: Die Zunge ist über Muskeln mit dem
Genick, dem Brustbein und den Schultern verbunden.
Der Reiter wirkt deshalb mit den Zügeln
zunächst auf die Maulwinkel und auf keinen Fall
auf die Zunge des Pferdes ein; dazu muss er seine
Hände so hoch wie nötig halten.
Akzeptiert das Pferd das Gebiss und gibt im Unterkiefer willig nach, so kann der Reiter die Geschmeidigkeit verbessern und sein Pferd zur Losgelassenheit veranlassen. Indem er es im Hals stark seitlich biegt, macht er es beweglich und erreicht damit auch die korrekte Dehnungshaltung. Legt sich das Pferd auf die Hand, so korrigiert er das Gleichgewicht und den Kontakt zwischen Hand und Maul, indem er das Pferd über Demi-arrêts, das sind Aufwärtseinwirkungen an beiden Zügeln, von der Hand löst.
Besteht das Ziel Ihrer Ausbildung in einer
stetigen Anlehnung, oder soll sich das Pferd
in freier Balance am losen Zügel bewegen?
So lange der Reiter eine feste Anlehnung zum Pferdemaul
benötigt, verspannt er das Pferd und bietet
ihm ein fünftes Bein an. Das zeigt, dass beide
nicht im Gleichgewicht sind. Ein entspanntes Pferd,
das sich im Gleichgewicht befindet, behält seine
Haltung mit lebendig kauendem Maul
bei halbgespannten Zügeln bei. Die
ruhige Position des Kopfes kommt
nach und nach als Ergebnis einer korrekten
Ausbildung.
Bei der Schulung des Pferdes sollte es die erste Pflicht der Reiterhand sein, dem Pferdemaul bei jeglicher Bewegung zu folgen – auch nach oben. Ruhige Reiterhände sind erst die Konsequenz aus einem ruhig getragenen Kopf des Pferdes, nicht andersherum. Diese Besessenheit von den tiefen Händen, der stetigen Anlehnung und von einem Pferd, das von Anfang an den Kopf hübsch hinhält, ist einer der Hauptgründe dafür, dass so viele Pferde – auch sehr talentierte – aufgerollt gehen und nur Parodien einer Piaffe zeigen.
Ein häufiger Vorwurf gegen Ihr Konzept lautet,
dass die Pferde beim Reiten mit der hohen Hand
den Rücken hohl machen, was schädlich für das
Pferd ist …
Das wird endlos wiederholt und nachgeplappert –
das ist ja auch viel einfacher, als sich wirklich einmal
mit Anatomie und Bewegungslehre zu beschäftigen!
Ein Pferd kann den Kopf entweder heben,
indem es einen Hirschhals macht, also den Hals
nach unten durchdrückt, oder indem es den Halsansatz
anhebt. Dabei werden völlig verschiedene
Muskeln benutzt.
Geht ein Pferd mit dem Unterhals gegen den Zügel an, drückt es dabei den Widerrist nach unten und macht den Rücken hohl. Hier besteht die grundsätzliche Gymnastik darin, den Hals umzuformen, indem das Pferd in Dehnungshaltung geritten wird. Überzäumung wäre eine Katastrophe.
Ein Pferd mit gut geformtem oder sogar etwas tief angesetztem Hals und dabei vielleicht auch noch einem eher kurzen Rücken neigt hingegen dazu, sich auf das Gebiss zu legen und auf die Schultern zu fallen. Der einzige Weg hin zu einer leichteren Anlehnung geht über das Anheben des Kopfes und die Korrektur des Gleichgewichts. Bei diesem Pferd wird der Halsansatz gehoben, der Widerrist kommt nach oben und der Rücken wird nicht durchgedrückt!
Nebenbei sollte man mal darüber nachdenken, warum Pferde, die ständig eingerollt geritten werden – auch solche, die perfekt gebaut sind – offensichtlich unfähig sind, ihre Hinterhand abzusenken und eine korrekte Piaffe zu zeigen. Eigentlich ist es ganz einfach: Man kann bei einem Pferd nicht das eine Ende senken (die Hinterhand), ohne das andere zu heben (die Vorhand).
Sie üben harte Kritik an der herkömmlichen Ausbildungsskala
der FN. Sehen Sie sie als Grund der
von Ihnen angesprochenen Übel an?
Hm, die Ausbildungsskala wird als das beste Konzept
für die Ausbildung von Pferden bezeichnet.
Aber wenn man in Dressur-Lehrbücher schaut, sieht
man immer nur perfekt gebaute Pferde; die anderen
werden nicht einmal erwähnt. In der Ausbildungsskala
fehlen meiner Meinung nach einige
absolut unverzichtbare Elemente – zum Beispiel
die Schulung des Pferdes auf die Reiterhilfen sowie
Gleichgewicht und Impulsion, also die Reaktivität
des Pferdes auf treibende Hilfen.
Einige Punkte stehen zudem in einer unlogischen Reihenfolge. Zum Beispiel ist es unmöglich, von einem Pferd Takt zu erwarten, solange es noch nicht entspannt ist, direkt auf die Reiterhilfen reagiert, losgelassen, geschmeidig und im Gleichgewicht läuft. Das wiederum setzt einen guten Zügelkontakt und ein Minimum an Geraderichtung voraus.
Außerdem ist es ein Grundprinzip der herkömmlichen Methode, das Pferd zwischen treibende und verhaltende Hilfen einzuspannen. Ein tiefer Sitz, mächtig treibende Schenkel, die das Pferd vorwärts schieben, und tiefe, gegenhaltende Hände – und das soll dann funktionieren ...
Letztlich ist die Ausbildungsskala eher eine Anleitung, wie man talentierte Pferde nutzt, als eine Ausbildungsmethode, die in der Lage ist, jedes Pferd zu fördern. Das ist ein höchst wirkungsvoller Weg, um den Markt für Dressurpferde anzukurbeln, aber ein Desaster für die Reitkultur! «««
(Das abgedruckte Interview ist eine redigierte und gekürzte
Fassung des Originalinterviews aus der Zeitschrift Dressur-
Studien,
Ausgabe 3/2005.
Wir bedanken uns beim Dressur-Studien-Verlag.)